Wir sind mal wieder spät dran. Schuld ist erneut der Lada Niva – eines unserer beiden Mietautos. Der Scheibenwischer hatte geklemmt und musste repariert werden. Zum Glück werden Autos aus der Sowjetzeit noch ohne komplexe Elektronik betrieben und können innert kürzester Zeit von einem Mechaniker, oder besser gesagt dessen 12 jährigem Sohn, repariert werden. Wir sind auf dem Weg zum Ruinenort Istisu und wollen dort unbedingt eine Lenin-Büste besuchen, von welcher unser Guide Dmitry schon die ganze Zeit erzählt. Wir versuchen schneller zu fahren, jedoch erlaubt dies die holprige Strasse nur bedingt.

Wir sind unterwegs in Bergkarabach im Kaukasus. Bergkarabach ist eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Südosten des kleinen Kaukasus, welche zwar de jure Teil Aserbaidschans ist, de facto aber unabhängig beziehungsweise armenisches Protektorat ist. Ein komplizierter Fall, wir kommen später noch dazu. Um in diese Region reisen zu können, benötigt man ein Visum, welches man in der armenischen Hauptstadt Yerevan erhält. Während Armenien Bergkarabach anerkennt und die Einreise somit problemlos möglich ist, wird dies vom Nachbarland Aserbaidschan in jedem Fall als illegaler Grenzübertritt verurteilt.

Wir passieren das Dorf Karvachar (Kalbajar) und weiter geht die Fahrt bis wir kurze Zeit später vor einer etwa 400 Meter hohen Felswand stehen bleiben. Ein schmaler Weg führt im Zick-Zack hoch. Dmitry fordert uns auf weiterzufahren, obwohl der Weg mehr einem Wanderweg als einer befahrbaren Strasse gleicht. Wir sind froh, mit allradgetriebenen Fahrzeugen unterwegs zu sein und hoffen, dass sie uns jetzt nicht im Stich lassen. Nach einer schweisstreibenden Fahrt entlang einem steilen Abhang erreichen wir eine Ebene und das kleine Dörfchen Tsar. In Tsar stehen seit dem Krieg um Bergkarabach mehr zerstörte und verlassene Häuser der vertriebenen aserbaidschanischen Bevölkerung, als bewohnte Unterkünfte der aktuellen armenischen Einwohner.

Dorf Tsar

Das Dorf Tsar ist noch immer vom Krieg gezeichnet

 

In Tsar treffen wir Freunde von Dmitry, welche gerade dabei sind, unsere Weiterfahrt zu planen. Da eine Flussüberquerung mit einem Fahrzeug wegen Hochwasser nicht möglich ist, müssen wir eine alternative Route einschlagen. Unsere Fahrzeuge sind dafür nicht geeignet und daher satteln wir auf einen UAZ um. Dieses Geländefahrzeug aus der Sowjetzeit meistert nun aber wirklich jedes Hindernis. Wir steigen ein, sind gespannt auf die Weiterreise und fragen uns, warum der Beifahrer eine Schrotflinte mit sich trägt. Dies wird kurze Zeit später geklärt, als der Beifahrer aus dem fahrenden Auto Jagt auf Wildhühner macht. Getroffen hat er zwar nicht, beeindruckt hat es und aber schon.

Fahrt im UAZ - Der gute Freund lässt einem in keiner Situation im Stich.

Fahrt im UAZ – Der gute alte Gefährte lässt einem in keiner Situation im Stich

 

Jagd mit der Schrotflinte auf ein Perlhuhn aus dem fahrenden Auto.

Jagd mit der Schrotflinte auf ein Wildhuhn aus dem fahrenden Auto

 

Zwar sind es nur 6km Luftlinie, dennoch brauchen wir gut eine Stunde bis das das Ziel erreichen. Wir steigen aus und erblicken nun endlich Istisu. Aus der Ferne wirken die Ruinen beeindruckend und irgendwie deplatziert.

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Wie kam es dazu dass Istisu, heute versteckt in einem abgelegenen Tal  liegend, in Vergessenheit geriet? Ohne Russischkenntnisse ist es nicht leicht an Informationen zu kommen, aber wir haben es trotzdem versucht:

Die Gegend um Istisu (was auf Aserbaidschanisch heisses Wasser bedeutet) war schon jahrhundertelang bei der lokalen Bevölkerung bekannt für die heissen Heilquellen, die dort aus den Bergen sprudeln. Während der Zeit der Sowjetunion lag das Tal in der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik (AsSSR) und 1928 wurde mit dem Bau eines Sanatoriums begonnen, inklusive Heilbädern, Hotel, Zufahrtsstrassen und allem drum und dran. Das Santatorium entwickelte sich zu beachtlicher Grösse und ist unter anderem in diesem touristischen Film der Zeit prominent vertreten:

Istisu lag zwar in der AsSSR selbst, allerdings in einem schmalen Landstreifen zwischen der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ArSSR) und der zur AsSSR gehörenden autonomen Teilrepublik Bergkarabach. Bergkarabach, vorwiegend von Armeniern bevölkert, war seit seiner Integration in die Sowjetunion zwischen der ArSSR und der AsSSR umstritten.  Als die Sowjetunion 1991 zerbrach, löste Aserbaidschan den autonomen Status Bergkarabachs auf, worauf die Region ihre Unabhängigkeit erklärte. Vorausgegangen war bereits ein gewalttätiger Konflikt ab den späten 1980er-Jahren, welcher spätenstens ab der Unabhängigkeitserklärung Bergkarabachs zu einem Krieg eskalierte. Nach blutigen Kriegsjahren wurde 1994 ein Waffenstillstand beschlossen, der bis heute andauert. Seither sind nicht nur die grössten Teile der ehemaligen autonomen Teilrepublik Bergkarabach, sondern auch einige benachbarte (ehemals) aserbaidschanische Provinzen unter Kontrolle der Republik Bergkarabach (NKR), darunter das Gebiet um Istisu. Die NKR ist eng mit Armenien verknüpft, wird aber sonst von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt.

Istisu vo der Zerstörung

Die Hauptgebäude von Istisu vor der Zerstörung (www.panoramio.com)

 

Im Krieg wurde auch Istisu inklusive der Zufahrtsstrasse zerstört. Daher müssen wir uns jetzt zu Fuss auf den Weg machen, um die Ruinen zu besuchen, wobei noch ein reissender Bergbach durchwatet werden muss. Nach einer halben bis einer Stunde Fussmarsch treffen wir endlich in Istisu ein.

Die letzte Hürde

Die letzte Hürde auf dem Weg nach Istisu

 

Vom ehemaligen Sanatorium stehen noch zahlreiche Gebäude, wenn auch in halb verfallenem Zustand. Trotzdem kann man noch die Zimmer, Gänge, Treppen und Bäder erkennen. Endlich sehen wir auch das überlebensgrosse Bildnis Lenins und werden Zeugen weiterer Überraschungen. Talaufwärts etwa befinden sich entlang der geborstenen Wasserleitung zahlreiche Geysire, wo das heisse mineralreiche Wasser kleine Tümpel und bunte Ablagerungen bildet.

Auch wenn die meisten Gebäude verfallen sind und viele Einrichtungsgegestände bei Plünderungen abhanden gekommen sind, ist ein Besuch trotzdem sehr interessant. Die Anlage ist ein Zeuge früherer Blütezeit, quasi eine moderne archäologische Stätte. Und durch die Abgeschiedenheit, die geringe Bekanntheit, den schweren Zugang und den unerwarteten Kontrast grosser Gebäude in der sonst sehr dünn besiedelten Region erhält der Ort eine aufregende, etwas surreale Ausstrahlung. Ein ständiger Begleiter ist das bedrückende Gefühlt, dass dieser Ort überstürzt verlassen wurde und die Menschen kaum Zeit hatten, sich zu verabschieden. Man erwartet jeden Moment auf einen Gast zu treffen, der noch nicht realisiert hat, dass alle andern schon weg sind.

Koordinaten Istisu: 39°56’40″N, 45°57’42″E