Heute möchte ich von einer ganz besonderen Stadt in China erzählen:

Zwischen den Provinzen Chongqing und Hubei durchschneidet der mächtige Fluss Jangtsekiang ein Gebirge mit ziemlich steilen Bergen. Lange Zeit war die Gegend nur auf dem Wasserweg sicher erreichbar, da das Gelände sehr unwegsam ist. So manche Karawane wurde schon von Erdrutschen begraben und zahllose Legenden ranken sich um Fabelwesen, die in Höhlen über dem Fluss hausen. Ein kleines Stück flussaufwärts der berühmten drei Schluchten liegt allerdings eine grosse Stadt, die eigenartigerweise kaum über die Provinzgrenzen hinaus bekannt ist: Feng Jie (sprich: Fongdschje).

Die Stadt könnte ungewöhnlicher kaum sein: Direkt an steile Flussufer gebaut, befürchtet man, sie könnte jederzeit in die Fluten abrutschen. Ein Teppich von Häusern überzieht die Bergflanke samt ihren tiefen Einschnitten und Wölbungen wie eine rauhe, weissgraue Kruste. Und was für Häuser! Nicht etwa niedrige Hütten schmiegen sich gedrungen aneinander, sondern mächtige Wolkenkratzer und kommunistische Betonbauten stehen sich gegenseitig auf den Füssen. Nebeneinander, übereinander und ineinander gebaut ragen sie in die Höhe, sich scheinbar aufeinander abstützend und um einen Blick auf den Fluss ringend. In den Häuserschluchten eingequetscht liegen schmale und steile Bergstrassen, ständig vom laut hupenden Verkehr verstopft. Man stelle sich vor, die Wolkenkratzer Manhattans würden statt den Broadway die Via Tremola (die alte Gotthard-Passtrasse) säumen. Die meisten grösseren Gebäude haben talseitig gut und gerne ein halbes Dutzend Stockwerke mehr als auf der gegenüberliegenden Seite, so dass es kein definiertes Erdgeschoss mehr gibt.

Stadtplan Feng Jie

Die zukünftige Entwicklung der Stadt wird an der Wand des Rathauses visualisiert.

Die Strassenführung ist zudem für Auswärtige kaum überblickbar: Durchgangsstrassen führen plötzlich durch die Parkgaragen von Wohnhäusern und schmale Brücken überqueren tiefe Seitentäler um dann unvermittelt auf halber Höhe wieder zwischen zwei Hochhäusern zu verschwinden. Etliche Strassen sind so steil, dass man selbst im ersten Gang nicht mehr anzufahren vermag, ohne die Scheinwerfer und die Klimaanlage auszuschalten oder die Passagiere aussteigen zu lassen.
Trotz ihrer überraschenden Lage und den topographisch bedingten Mühseligkeiten wächst die Stadt rasant  und stets werden neue Türme und Häuser zwischen, hinter, vor, über und selbst unter bestehenden Brücken, Plätzen und Gebäuden errichtet. So herrscht rund um die Uhr ein geschäftiges Treiben in den Strassen, welches höchstens von erschöpften Keuchen der Passanten etwas gedämpft wird.

Feng Jie

An der zentralen Flaniermeile.

Feng Jie

In Downtown Feng Jie.

Der erste Eindruck von der Stadt mag einem verwirren, hat man sich jedoch davon erholt, sollte man unbedingt ein lokales Restaurant aufsuchen. Denn auch die Speisekarte hat Ungewöhnliches zu bieten. Beginnen könnte man etwa mit einer Hühnersuppe, bei der traditionellerweise das ganze Huhn vom Kopf bis Fuss verwertet wird. Bemerkenswerterweise scheint dabei jedoch meist alles zwischen Kopf und Fuss liegende weggelassen zu werden, was in einer gelblichen Brühe schwimmenden Ansammlung von Hahnenkämmen und Hühnerfüssen resultiert.
Eine weitere Spezialität, die von jedem Einwohner in den höchsten Tönen gelobt wird ist Clayfish, also Tonfisch. Als auswärtiger und ahnungsloser Besucher erhält man stattdessen fast unvermeidbar minderwertige Flusskrebse (Crayfish) vorgesetzt. Dieser ist zudem mit so viel Szechuanpfeffer zubereitet, dass sich Zunge und Lippen nach dem Essen etwa so anfühlen, als seien die Scheren der Krebse im Mund zu neuem Leben erwacht. Echter Clayfish ist sehr selten – so selten, dass manch einer gar an seiner Existenz zweifelt.

Crayfish

Die Polizei beschlagnahmt crayfish (Flusskrebse), die als clayfish ausgegeben wurden. (© Wang Chun / China Daily)

Die mit Abstand bekannteste und beliebteste Spezialität Feng Jies ist jedoch der sagenumwobene Hotpot. In speziellen Restaurants sind die Tische dafür so konzipiert, dass jeder Gast eine eigene Herdplatte vor sich hat, auf der ein Topf mit heissem Chili-Öl brodelt. Daneben steht eine etwas kleinere Schale, die mit kalten Chili-Öl gefüllt wird, in welchem allerlei Gewürze eingelegt sind, allen voran Chilischoten, Knoblauch und Szechuanpfeffer. In der Mitte des Tisches befinden sich nun mindestens ein halbes Dutzend Teller mit verschiedenem Gemüse, Fisch und in Chiliflocken mariniertem Fleisch. Diese Zutaten werden von jedem Gast in seinem individuellen Topf gegart und vor dem Verzehr in der Schale mit dem kalten Öl abgekühlt. Ein altes Sprichwort sagt, dass ein guter Hotpot vor und nach dem Verzehr insgesamt drei Mal brennt.

Heute ist Feng Jie übrigens leicht zu erreichen: Eine neue Schnellstrasse führt aus Osten und Westen direkt in die Stadt, auf typisch chinesische Art schnurgerade durch das Gebirge in ständigem Wechsel zwischen Tunnel und Viadukt. Dazu wird man freundlicherweise vom Busfahrer mit einem euphorischen Hupkonzert begleitet und ohrenbetäubende Humorsendungen im Bord-TV lassen keinen Funken Depression zu. Es gibt also überhaupt keine Ausrede mehr die aussergewöhnliche Stadt nicht selbst einmal zu besuchen.

Strasse nach Feng Jie

Die neue Schnellstrasse nach Feng Jie durchquert das Gebirge.

Zugegeben, nicht alles am obenstehenden Text entspricht zu 100% der Wahrheit und einige Fakten wurden etwas verzerrt, zurechtgebogen oder dazugedichtet. Trotzdem basieren die Informationen auf der realen Stadt Feng Jie. Ehrenwort!