Strecke: Kiev-Moskau
Fahrzeit: 09:58
Distanz: 872 km

In der ersten Etappe unserer Zugreise sind wir von Zürich nach Kiev gereist. Kievs Innenstadt verfügt über prächtige Häuser und bunte Kirchen mit goldenen Kuppeln. An diesem Sonntag, eine Woche vor dem orthodoxen Osterfest, tragen viele Passanten zudem traditionelle Weidenzweige mit sich. Das Gesamtbild ist also äusserst ruhig und friedlich. Wir besuchen das Tschernobyl-Museum, sowjetische Kriegsdenkmäler und die gigantische Statue der „Mutter der Nation“, deren Schwert nachträglich gekürzt wurde, damit sie die nahegelegene Kathedrale des Lavra-Komplexes nicht überragt. In letzterem Komplex gibt es übrigens auch eine Ausstellung sogenannter „Mikro-Miniaturen“, unglaublich kleine Kunstwerke, wie zum Beispiel ein komplettes Schachspiel auf einem Nagelkopf oder goldene Hufeisen an den Füssen eines echten Flohs. Die Metro ist tief, schnell und billig und bringt uns effizient zu köstlichen, wärmenden und ebenso billigem Borschtsch, Speck und Bier.

Aber auch die Spuren der „Euromaidan“-Proteste von 2013-2014 sind noch gut sichtbar: Blumen, Kerzen, Fotos von Verstorbenen, aufgemalte Körperumrisse wo Demonstranten erschossen wurden, mitten im Zentrum der Stadt. Das ganze ergänzt mit Fotos gefallener aus der Ostukraine und Kundgebungen zum Krim-Konflikt. Viele Elemente des Stadtbilds, wie Säulen oder Zäune, sind frisch blau-gelb gestrichen und an Ständen gibt es anti-Putin-Souvenirs zu kaufen. Im Nationalmuseum zeigen junge Filmemacher Kurzfilme aus dem Donbass (#Babylon’13), unsere Begleiterin Natalija übersetzt das wichtigste. In einem Park stehen drei gekaperte Russische Militärfahrzeuge als Beweisstücke, dass Russland im Krieg im Osten eine aktive Rolle spielt.

Im Nachtzug über die Grenze nach Russland werden unsere Pässe bis ins letzte Detail geprüft. Ansonsten verläuft die bequeme Fahrt ereignislos. Den ersten Tag in Moskau verbringen wir mit dem Besuch der bekannten Sehenswürdigkeiten der Innenstadt, wobei wir auch an einem Meer von Schnittblumen und einer Ansammlung von Menschen vorbeikommen: Die Stelle wo kürzlich der Oppositionsführer Boris Nemtsov getötet wurde, in unmittelbarer Nähe des Kremls. Die Russische Hauptstadt ist eine lebendige Mischung von Prunkbauten aus der Zeit des Zarenreichs, Symbolen der Sowjetunion und modernen, westeuropäisch anmutenden Orten wie der ehemaligen Schokoladefabrik „Roter Oktober“ voller Hipster-Cafés und Künstlertreffs.

Am zweiten Tag fahren wir hinaus zum Raumfahrtsmuseum, wo unter anderem eine originale Landekapsel und ein begehbares Modell der Raumstation Mir ausgestellt sind. Ganz in der Nähe befindet sich das VDNCh: Eine Art permanente Weltausstellung der Sowjetunion – eine fantastische Zeitreise durch prunkvolle Länderpaläste und andere Denkmäler. Aber auch ein Einblick in die aktuelle Russische Aussenpolitik wird geboten; So wurde beispielweise Abchasien1 eine kleine Kulturausstellung gewährt und die Installation „Material Evidence. Donbass. 365 Days ATO“ widmet sich dem Krieg im Donbass2: Aufwändig wurden Kriegsschauplätze nachgebaut – zerstörte Häuser, ein Lazarett, ein zerschossener Kleinbus. Alles ohne Erläuterungen aber sehr emotional und mit der impliziten Grundaussage „Seht, wie die armen Menschen dort unter den Angriffen der Ukrainischen Armee leiden“. Nur den „material evidence“, dass tatsächlich die Ukraine der Aggressor ist, bleibt die Ausstellung schuldig. Aber es ist interessant, innerhalb zweier Tage die Sicht beider Konfliktparteien sehen zu können. Zudem bleibt bis Tadschikistan – der Reichweite der Russischen Nachrichtensender – der Ukrainekonflikt weiterhin tägliches Hauptthema in den Medien. Und viele sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass wir durch die Ukraine gereist sind: „Aber herrscht denn dort nicht Krieg?“

1 Abchasien ist je nach Sichtweise eine abtrünnige Provinz Georgiens oder ein unabhängiger Kleinstaat und wird von Russland unterstützt. Wir haben die Region auf unserer Pioneer Tour 2014 besucht.

2 Artikel der FAZ zur Ausstellung

 

 

Nächstes Mal: Von Eisschollen zu Sanddünen mit dem Zug durch drei Länder.